Einleitung
Schmerz ist ein komplexes 3-dimensionales Geschehen (sensorisch, kognitiv, affektiv), dem unterschiedliche Mechanismen zugrunde liegen können.
Im ersten Teil dieser Reihe haben wir uns die Nozizeption und im zweiten Teil den neuropathischen Schmerzmechanismus angeschaut.
Im dritten Teil beschäftigen wir uns mit dem noziplastischen Schmerzmechanismus. Mit Sicherheit der Mechanismus, der am häufigsten missverstanden wird.
Die International Association for the Study of Pain (IASP) definiert noziplastischen Schmerz als Schmerz, der aus einer veränderten Nozizeption resultiert, ohne klaren Nachweis einer tatsächlichen oder drohenden Gewebeschädigung, die die Aktivierung von peripheren Nozizeptoren erklären könnte bzw. ohne Hinweis auf eine Erkrankung oder Schädigung des somatosensorischen Systems, die den Schmerz verursachen könnte.
How to Schmerz?!
Bei einem noziplastischen Schmerzgeschehen scheint es so, dass die hauptsächliche Ursache weniger auf der Ebene des peripheren Gewebes zu finden ist, sondern vielmehr in einer veränderten Schmerzwahrnehmung.
Dabei kommt es zu einer verstärkten Verarbeitung oder zu einer verminderten Hemmung von Schmerzreizen auf mehreren Ebenen des Nervensystems oder beides.
In der allumfassenden Komplexität der Schmerzwahrnehmung gibt es wahrscheinlich zahlreiche initiierende Wege, die zu einem letzten gemeinsamen Weg der Verstärkung der nozizeptiven Wahrnehmung, Transduktion und Übertragung führen können.
Klinik & Symptome
Noziplastische Schmerzen stehen in einem erheblichen Missverhältnis zu jeglichen Gewebetreibern, dauern über die erwarteten Wundheilungszeiten hinaus und sind zudem häufig wiederkehrend. Sie sind durch eine weitläufige Allodynie (gesteigerte Schmerzempfindlichkeit, reduzierte Schwelle) und Hyperalgesie (gesteigertes Schmerzempfinden) gekennzeichnet.
Typischerweise schwankt der Schmerz sowohl in Ort als auch Intensität und kann durch körperliche Aktivität, Umweltreize (z.B. Wetteränderungen) oder emotionalen Stress verstärkt werden. Jedoch bestehen selten nur lokale Beschwerden. Noziplastischer Schmerz wird in der Regel von anderen ZNS-assoziierten Symptomen begleitet, wie Müdigkeit und Schlafstörungen, kognitiven Beeinträchtigungen, Überempfindlichkeit gegenüber äußeren Reizen und Stimmungsschwankungen.
Eine Identifizierung in der Praxis ist wichtig, denn Patient*innen mit einem noziplastischen Schmerzmechanismus haben:
- eine schlechtere Prognose
- mehr Schmerzen, mehr Einschränkungen
- geringeren Erfolg bei Gewebebehandlungen
Sensibilisierung
Der dominante Mechanismus dahinter ist eine zentrale Sensibilisierung. Diese wird definiert durch eine größere Empfindlichkeit/Reaktionsbereitschaft von nozizeptiven Neuronen bei einem normalen oder niederschwelligen Input. Diese Überempfindlichkeit ist weitreichend (z.B. Berührung, Licht, Geräusche, Gerüche).
Zusätzlich gibt es auch die periphere Sensibilisierung, die durch eine erhöhte Reaktionsfähigkeit nozizeptiver Neuronen in der Peripherie gekennzeichnet ist. Aus diesem Grund sollten noziplastische Schmerzen und zentrale Sensibilisierung auch nicht als Synonyme verwendet werden, da bei einem noziplastischen Schmerzmechanismus in der Regel ebenso eine periphere Sensibilisierung involviert ist.
Das Beispiel einer akuten Hautverletzung kann helfen, diese Mechanismen besser zu verstehen: Das Hautareal der Verletzung reagiert auf leichte Berührungen (Allodynie), Wärme und Nadelstiche (Hyperalgesie). Dies sind Anzeichen peripherer und zentraler Sensibilisierungsprozesse. In Abwesenheit eines kontinuierlichen Auslösers (z.B. Abklingen der Entzündung) würde die Sensibilisierung entweder zur normalen Reizschwelle zurückkehren oder pathologisch werden und die Stimuli überdauern.
Peripherer Input
Eine zentrale Fragestellung hierbei ist, ob noziplastische Schmerzen auch ohne Input aus dem Gewebe bestehen können. Zu dieser Frage wird weiterhin noch viel geforscht und es sind bei weitem noch nicht alle Unklarheiten beseitigt, jedoch tendiert die aktuelle Literatur schon in eine Richtung:
- Der periphere Input ist wichtig für die Initiierung und Aufrechterhaltung der zentralen Sensibilisierung.
- Es besteht bisher keine Evidenz, dass die zentrale Sensibilisierung als autonomer Schmerzgenerator ohne peripheren Input nach der Heilung der auslösenden Verletzung bestehen bleiben kann – die zentrale Sensibilisierung ist daher nicht als autonomer Schmerzgenerator zu sehen.
- Periphere Treiber werden in keiner Studie ausgeschlossen und sind vermutlich häufiger Bestandteil des Prozesses.
Untersuchung
Um einen noziplastischen Schmerzmechanismus zu identifizieren, sind folgende Untersuchungen wichtig:
- eine ausführliche klinische Anamnese
- eine umfassende körperliche Untersuchung
- selektive, zustandsspezifische Tests (z.B. Labortests, Bildgebungen oder spezifische Assessments)
- Einsatz symptomenspezifischer Fragebögen (z.B. Stimmung, Schlaf, Müdigkeit) –> Central Sensitization Inventory, Pittsburgh Sleep Quality Index, Multidimensional Fatigue Inventory, Patient Health Questionnaire-4, …
- die quantitative sensorische Testung (QST) testet umfassend die Empfindlichkeit gegenüber einer Reihe von Reizen
WICHTIG: Noziplastische Schmerzen sind keine Diagnose, sondern eine Beschreibung der zugrundeliegenden Schmerzmechanismen. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen sollten immer im Kontext der jeweiligen Patient*innen betrachtet werden. Ein ausführlicher Entscheidungsbaum für noziplastische Schmerzen kann der Arbeit von Nijs et al. (2021) entnommen werden.
Herausforderungen
Es bestehen jedoch noch einige relevante Herausforderungen in der klinischen Praxis bei der Anwendung des Konzepts von noziplastischen Schmerzen:
- Eingeschränkte Genauigkeit der Tests und Fragebögen zur Diagnosestellung einer zentralen Sensibilisierung in der Praxis.
- Eine zentrale Sensibilisierung ist nicht gleichbedeutend mit psychischen Problemen. Für einen ausreichend umfassenden Eindruck ist eine umsichtige und systematische Evaluation von physiologischen Veränderungen sowie psychosozialen Aspekten bei der Untersuchung notwendig.
- Periphere Treiber der zentralen Sensibilisierung spielen eine Rolle bei der Auslösung, Aufrechterhaltung und Modulation einer Sensibilisierung.
- Mixed Pain: Überlappung bekannter Schmerzmechanismen.
- Epistemische Demut: Das wissenschaftliche Verständnis noziplastischer Schmerzen entwickelt sich weiter – Klinikerinnen müssen darauf vorbereitet sein, ihr Wissen zum Nutzen der Patientinnen neu zu bewerten.
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