Einleitung

Im 1. Teil haben wir uns die Entstehungsgeschichte und das Erklärungsmodell der Chiropraktik angeschaut. Dabei haben wir gelernt, dass es für die Grundannahme der Chiropraktik, die Subluxationen von einzelnen Wirbelkörpern, keine wissenschaftliche Evidenz gibt und sie anatomisch auch nicht plausibel ist.

Im 2. Teil beschäftigen wir uns mit dem tatsächlichen Wirkmechanismus hinter so einer Behandlung und wann chiropraktische Interventionen sogar wirklich gefährlich werden können.

Disclaimer: Wir möchten hiermit keinesfalls einzelne Personen angreifen, es geht darum, die allgemeine Arbeitsweise der Chiropraktik mit der aktuellen Datenlage abzugleichen.

Chiropraktische Interventionen bestehen aus sogenannten spinalen Manipulationen (SM). Dabei wird mit hohem Kraftaufwand ein schneller Impuls auf ein bestimmtes Gewebe mit therapeutischer Absicht ausgeübt. Spinale Manipulationen sind keine chiropraktische Erfindung und werden auch von anderen Berufsgruppen in der Praxis angewandt.

Ergebnisse

In der Literatur gab es bereits einige Übersichtsarbeiten, die sich mit der Effektstärke von spinalen Manipulationen beschäftigt haben, die teils unterschiedliche Ergebnisse beschreiben. Zwei Cochrane Reviews über untere Rückenschmerzen kommen zu dem Schluss, dass es keinen klinisch relevanten Unterschied zwischen einer SM, anderen Maßnahmen und einer Placebo-Behandlung zur Schmerzlinderung und Funktionsverbesserung gibt. Eine Arbeit von Chaibi et al. (2021) über akuten Nackenschmerz stellte fest, dass SM neben anderen Maßnahmen eine mögliche Behandlungsmethode darstellen kann. Alle Arbeiten haben jedoch gemeinsam, dass sie die insgesamt geringe Anzahl und die niedrige Qualität der Studienlage sowie die zweifelhafte Vertrauenswürdigkeit der Ergebnisse kritisieren.

Wirkmechanismus

Bislang ist der genaue Wirkmechanismus noch nicht vollständig geklärt. Die möglichen Wirkungen dieser Behandlungen sind vielfältig. Der entscheidende Grund für eine Verbesserung von Symptomen nach einer Manipulation scheint auf der neurophysiologischen Ebene stattzufinden. Die mechanische Stimulation einer spinalen Manipulation erzeugt eine Reihe von Inputs in das Hinterhorn des Rückenmarks, die wiederum eine Kaskade von neuronalen Reaktionen auslöst, die komplexe Interaktionen zwischen dem peripheren und dem zentralen Nervensystem beinhalten. Dies kann eine veränderte Wahrnehmung von Symptomen und eine Schmerzlinderung zur Folge haben. Es werden auch Effekte auf der biomechanischen Ebene beschrieben (z. B. erhöhte Diffusion in den Bandscheibenraum). Zusätzlich sind soziale Effekte wie die Erwartung eines Behandlungserfolges, die therapeutische Allianz und andere Kontextfaktoren wichtig.

Probleme

Es ist jedoch unklar, wie lange diese Effekte anhalten. Eine Studie aus 2020 von Thomas et al. stellte keine signifikanten Unterschiede zwischen einer spinalen Manipulation, einer spinalen Mobilisierung und einer Placebo-Behandlung bei einem Follow-Up von 48-72 Stunden bzw. 4 Wochen nach der Behandlung fest. Eine neue Übersichtsarbeit aus 2023 von Sørensen et al. bestätigte zudem die Annahme, dass es keinen Unterschied macht, ob die Manipulation auf einer bestimmten Wirbelebene appliziert wird oder ein nicht gezielter Ansatz erfolgt. Diese Tatsache spricht gegen die Hypothese, dass ein lokaler, segmentaler Effekt im Gewebe bzw. Gelenk entscheidend für den Behandlungserfolg ist. Was (als Erinnerung) jedoch die Grundthese der Chiropraktik ist. Es gibt weitere Probleme: Die Zuverlässigkeit in der Chiropraktik eingesetzten Untersuchungsmethoden ist im Allgemeinen sehr gering. Da dies bereits in der Chiropraktik bekannt ist, werden viele Patienten routinemäßig einer Röntgenuntersuchung unterzogen. Dies ist mit aktuellen Leitlinienempfehlungen nicht vereinbar, da bildgebende Verfahren bei Rücken- oder Nackenbeschwerden häufig überflüssig sind und auch schädlich sein können.

Nocebos

Kritisch zu betrachten ist zudem die häufig nachteilige Kommunikationsweise in der Chiropraktik und daraus resultierende Nocebos. Nocebos sind negative Auswirkungen, die nach Verabreichung einer Behandlung aufgrund von Mechanismen, wie z. B. die Erwartungen der Patient*innen auftreten. Beispiele in der Chiropraktik wären folgende:

  • Verstärkung der falschen Überzeugung über die Notwendigkeit bildgebender Verfahren
  • Negative unrealistische Voraussagen (wie z. B. ein Voranschreiten von Symptomen sei unvermeidlich ohne Chiropraktik)
  • Abhängigkeit von Behandlungen – Überflüssige Verträge über Langzeitbehandlungen mit hoher finanzieller Belastung

Risiken

Es gibt mittlerweile Korrelationen von spinalen Manipulationen an der Halswirbelsäule und der Verletzung von Blutgefäßen und in weiterer Folge der Entstehung eines Schlaganfalls. Eine Übersichtsarbeit aus 2009 von Gouveia et al. stellte fest, dass frühere Studien Fälle von arteriellen Verletzungen im Zusammenhang mit Manipulationen grob falsch klassifiziert haben. Das Risiko, einen Schlaganfall nach einer SM an der Halswirbelsäule zu erleiden, sei bisher höher als angenommen (v. a. bei jungen Menschen). Ein großes Problem besteht hierbei jedoch an der schwachen Datenlage zu diesem Thema. Die Chiropraktik wird für die mangelnde Dokumentation und Aufarbeitung von Nebenwirkungen stark kritisiert, weshalb auch keine eindeutige Einschätzung der Risikowahrscheinlichkeit und kein endgültiger kausaler Zusammenhang feststellbar sind. Dazu sei erwähnt, dass medizinische Behandlungen nie komplett frei von Nebenwirkungen sind (z. B. bei Medikamenten). Deswegen spricht man hier auch von einem Risiko-Nutzen-Verhältnis. Aufgrund des sehr kleinen, aber doch vorhandenen Risikos für eine arterielle Verletzung und keiner langfristigen Wirkung der Behandlung, ist es empfehlenswert, dieses Verhältnis genau zu betrachten, bevor man chiropraktische Interventionen (an der Halswirbelsäule) in Anspruch nimmt.

Fazit

Die derzeitige chiropraktische Praxis gibt aufgrund von folgenden Punkten Anlass zu zahlreichen Bedenken:

  • Unvollständiger Wirksamkeitsnachweis
  • Mit hoher Wahrscheinlichkeit keine langanhaltenden Effekte
  • Ungenügende Untersuchungsmethoden
  • Übermäßiger, überflüssiger Einsatz von bildgebenden Verfahren
  • Hohes Risiko für fehlerhafte Diagnosen
  • Hohes Risiko für Nocebos:
    – Vermittlung eines unrealistischen Körperbildes
    – Verringerung der Selbstwirksamkeit von Patient*innen
  • Hohes Risiko für die Abhängigkeit einer Behandlung – dadurch unter Umständen hohe finanzielle Belastung
  • Wahrscheinlich geringes, aber noch nicht vollständig geklärtes Risiko für schwere Nebenwirkungen
  • In Anbetracht der aktuellen Datenlage, sollte der Wert dieser beliebten Methode als Gesundheitsdienstleistung zunehmend hinterfragt werden.

Quellen:

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